Entartete Musik

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Das ästhetisch-moralische Urteil ‚Entartete Musik‘ wandte bereits E.T.A. Hoffmann 1821 an, um den erfolgreichen Komponisten Rossini abzuwerten. Auch der jüdische Arzt und Schriftsteller Max Nordau äußerte sich ab 1892 mehrfach in seinen Werken zu (Symptomen der) Degeneration. Der nazistische Begriff der 'Entartung' fand in der präfaschistischen Zeit bereits Anwendung, als der österreichische Kritiker Richard Batka Schönbergs Klavierstücke und Gurrelieder nicht mehr als Kunst bezeichnen wollte und sich fragte, wie es nur möglich sei, dass dieser so "entarten konnte" (Batka 1910, zitiert nach Reich 1974, 59f.).

Wenn in der Terminologie des nationalsozialistischen Denkens der Musikbolschewismus Ausdruck für die Kultur des ‚Untermenschen‘ war, so stand die ‚deutsche Art‘ für die Überlegenheit der deutschen Musik. Musik war im antisemitistisch geprägten Antibolschewismus ‚entartet‘, wenn sie entweder von ‚nicht-arischen‘ oder jüdischen Komponisten stammte oder musikalisch sich an der Atonalität orientierte, die Hans Severus Ziegler für ein "Produkt jüdischen Geistes" hielt (Ziegler 1938, 24). In Folge dieser Ausgrenzung realisierte die Reichsmusikkammer die Selektion, eine Vorstufe der Verfolgung. Merkmale 'entarteter' Musik ließen sich scheinbar mühelos zusammentragen (Vgl. Gerigk 1938-2), die Produktion 'arteigener' Musik, die dem Anspruch der Überlegenheit gerecht werden sollte, blieb sowohl in der deutschen Unterhaltungsmusik als auch in den Werken jüngerer Komponisten hinter den Erwartungen zurück (Vgl. Wenzel 2001, 326 und Neumann 2001, 469). Die Beschreibungen der Musik sind durchaus widersprüchlich: Boris Blachers, ‚Geigenmusik zu drei Sätzen‘ wurde als „Zeichen der Entartung“ (Gerigk 1938-1, 699) herabgesetzt, war aber trotz der Abwertung Teil des Programms der Reichsmusiktage in Düsseldorf. Hermann Reutters Werke empfand Joseph Goebbels als „scheußlich und unerträglich“ (Goebbels Tb., 20.01.1938), dennoch wurden sie häufig gespielt und Reutter selber noch 1937 und 1943 ausgezeichnet.


Verwendete Literatur:

  • Drüner, Ulrich und Georg Günther: Musik und „drittes Reich“. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik, Wien 2012, 153–181
  • Dümling, Albrecht und Peter Girth (Hg.): Entartete Musik. Dokumentation und Kommentar zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938, Düsseldorf 31993 [1988]
  • Dümling, Albrecht (Hg.): Das verdächtige Saxophon. "Entartete Musik" im NS-Staat – Dokumentation und Kommentar, Düsseldorf 52015
  • Dümling, Albrecht: Entartete Musik (Ausstellung 1938), in: Benz, Wolfgang: Literatur, Film, Theater und Kunst (= Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7), Berlin 2015, 101-103
  • E.T.A. Hoffmann: Betrachtungen über Musik, Stuttgart 1947, 127f
  • Gerigk, Herbert: Reichsmusiktage in Düsseldorf, in: Die Musik, 30 (1938-1) 698–699
  • Gerigk, Herbert: Was ist mit der Jazzmusik?, in: Die Musik, 30 (1938-2), 686
  • Hüneke, Andreas: Entartete Kunst in: Benz, Wolfgang: Literatur, Film, Theater und Kunst (= Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7), Berlin 2015, 70–71
  • John, Eckhard: Musikbolschewismus – Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938, Freiburg i. Br. 1994, 368–381
  • Litterscheid, Richard: Nachruf auf den Jazz, in: Die Musik, 30 (1936) 321–327
  • Neumann, Sonja: "Deutsche Musik"/"Entartete Musik", in: Heister, Hanns-Werner (Hg.): "Entartete" Musik 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Teil 2, Saarbrücken 2001, 469
  • Nordau, Max: Entartung. Erster und Zweiter Band, Berlin 1892/93
  • Okrassa, Nina: Peter Raabe – Dirigent, Musikschriftsteller und Präsident der Reichsmusikkammer (1872-1945) Köln 2004, 280–322
  • Prieberg, Fred K.: Musik im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1982, 260–309
  • Reich, Willi: Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär, München 1974
  • Wenzel, Silke: "Entartung" in der Musik. Aspekte eines Begriffssystem, in: Heister, Hanns-Werner (Hg.): "Entartete" Musik 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Teil 1, Saarbrücken 2001, 308–332
  • Ziegler, Hans Severus: Entartete Musik. Eine Abrechnung, Düsseldorf, o.J. [1938]

Empfohlene Zitierweise

Joachim Pollmann, Artikel “Entartete Musik“, in: Kollaborateure – Involvierte – Profiteure. Musik in der NS-Zeit, hrsg. von Rebecca Grotjahn, Universität Paderborn / Hochschule für Musik Detmold, 2019. URL: https://kollaborateure-involvierte-profiteure.uni-paderborn.de/index.php/Entartete_Musik

Autor

Joachim Pollmann (2019, aktualisiert am 14. Juni 2021)